erzählend

Sven Regener: Neue Vahr Süd

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Bremen, 1980, Stadtteil Neue Vahr Süd: Frank Lehmann blickt in eine düstere Zukunft. Morgen geht für ihn der Wehrdienst los. Dabei will er überhaupt nicht zum Bund! Er hat nur einfach nicht rechtzeitig ans Verweigern gedacht. Und so beginnt für ihn ein neues, reichlich seltsames Leben: Unter der Woche geht es für Frank ums Marschieren, um Nato-Alarm und seine Pflichten als Vertrauensmann, zu dem er sich zu allem Überfluss auch noch hat wählen lassen. Und am Wochenende haust er mit alten Schulfreunden in einer heruntergekommenen WG ohne Licht, Wasser, Sinn und Verstand. Und die schöne Sibille gibt es ja auch noch…

Wahrscheinlich war Sven Regener selber beim Bund – zumindest schildert er das Leben zwischen Grünzeug, Mannschaftsheim und Heimschlaferlaubnis mit so viel Sachverstand wie einer, der das live erlebt haben muss. Fahnenjunker Tietz, die Gefreiten Meyer und Groß, die man nie, nie! etwas alleine machen lassen darf, der salbungsvoll-gehässige Standortpfarrer, das befremdliche Vokabular („Ich komme gerade aus dem Gelände“): Regener entlarvt die Bundeswehr auf wirklich zum Brüllen komische Weise als sinnlose, langweilige und zugleich schrecklich furchteinflößende Institution, wo es zugeht wie auf einem anderen Stern.

Franks WG-Leben zwischen in Aquarien verschimmelnden Fischen und Plätzchen backenden Punks steht der Schilderung vom Kasernen-Leben um nichts nach. Als Schönheitsfehler wäre am ehesten noch zu nennen, dass es Regener nicht so recht gelingen will, Franks Mitbewohnern und Freunden Leben und Charakter einzuhauchen: Bis weit über die Hälfte des Romans hinaus konnte ich sie nur schwer auseinanderhalten.

Aber diesen Mangel kompensiert die Hauptfigur selbst: Frank Lehmann, dieser nachdenkliche, kluge, feinfühlige Kerl, der seine Umwelt durch rhetorisch gekonnte Monologe beeindruckt und zugleich auf Abstand hält – er könnte so viel mehr sein, als er ist, aber er will eigentlich gar nicht groß irgendwas werden. Aber alle anderen offenbar schon, und so ist Frank Lehmanns Geschichte nicht nur Entwicklungs- und Coming-of-Age-Roman – schließlich wird er ja, wenn auch nicht ganz legal, den Absprung von der Truppe schaffen und sich von Bremen aufmachen nach Berlin – sondern auch eine Reflexion über unsere zielgerichte, geradlinige, durchgeplante Welt, wo zwischen Grillplatte Balkan und ABC-Alarm/Sprühangriff niemand mehr das Recht hat, einfach vorhanden, einfach Frank Lehmann, zu sein.

„Neue Vahr Süd“: Der grandiose Auftakt zur „Herr-Lehmann“-Trilogie, auch in Zeiten ohne Wehrpflicht ein Erlebnis.

Sven Regener: Neue Vahr Süd.
632 Seiten
9,95 Euro
ISBN: 978-3-442-45991-9
Goldmann

 

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