Reinhard Kleist ist keiner, der es sich leicht macht. Nicht mit der Graphic Novel „Der Boxer“.
Und auch nicht mit „Der Traum von Olympia“.
Die junge Läuferin Samia Yusuf Omar aus Somalia träumt von einer Karriere als Profi-Sportlerin. Bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 war sie schon dabei, jetzt will sie den nächsten großen Schritt wagen: London, 2012.
Aber professionell für Olympia trainieren, das ist so eine Sache, wenn man ausgerechnet aus Mogadischu kommt. Das Stadion eine Ruine, kein passendes Sportzeug, keine Stoppuhren, statt Sportler-Diät Bananen und Reis. Und in den Straßen patrouillieren Al-Shabaab-Milizen, die Samia auf dem Heimweg vom Stadion auflauern: Warst du das im Fernsehen bei der Olympiade? Schämst du dich nicht? Wir wissen, wo du wohnst.
Der Versuch, im Nachbarland Äthiopien zu trainieren, wo die Bedingungen besser sind, schlägt fehl. Und die Spiele in London rücken näher. Samia sieht nur noch einen Ausweg: Sie entscheidet sich für die riskante Flucht nach Europa …
Kleist erzählt diese Geschichte in schönen, in strengem Schwarz-Weiß gehaltenen Bildern, und häufig lässt er seine Figuren darin schrecklich allein wirken, wie verloren: Die Verwandten von Samia etwa, auf dem Heimweg nach einer Art innerfamiliärem public viewing von Samias Rennen, zeigt er uns aus weiter Entfernung, drei kleine Figuren am Ende der Straße – dieser stille, melancholische Moment bleibt einem noch lange vor Augen.
Und es gibt viele dieser wortlosen Momentaufnahmen: das Entsetzen im Gesicht der Nachbarin, die Samias Familie die Nachricht vom Tod des Vaters bringt. Der Al-Shabaab-Milizionär, wie er Samia ins Gesicht schlägt. Die verzweifelten Kritzeleien an der Holzwand eines Schuppens irgendwo an der Küste von Libyen, wo Samia mit vielen anderen auf ein Boot nach Europa wartet: Call 175862. Write to please. Said1982@gmail.com.
Die Kommunikation per Smartphone oder sozialen Netzwerken spielt eine zentrale Rolle in Kleists Werk. So ergänzt er beispielsweise seine Zeichnungen häufig um Facebook-Einträge, wie sie Samia erstellt haben könnte.
Und das letzte Kapitel der Graphic Novel zeigt uns, ohne Kommentar und ohne dass erkennbar wäre, wer es aufruft, ein YouTube-Video: Der berühmte somalische Langstreckenläufer Abdi Bile erinnert in einer Rede an den Tod von Samia Yusuf Omar, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken ist. Und diesmal zeichnet Kleist auf schwarzem, nicht wie sonst auf weißem Hintergrund, wie in Trauer.
Die auffallende Präsenz von Facebook oder Youtube hat sicherlich nicht nur damit zu tun, dass Kleist so nah wie möglich an den realen Ereignissen bleiben möchte – so hielt Samia tatsächlich über Facebook Kontakt zu Freunden und Familie, wenn auch ihre Einträge dort inzwischen gelöscht wurden.
Vielmehr signalisieren die präzisen Zeichnungen von Benutzeroberflächen, die wir alle beinahe täglich vor uns sehen, unmissverständlich ein Gefühl von Gegenwart, von Hier und Jetzt. Es wird überdeutlich: Samias Geschichte gehört in unsere Zeit, und sie wiederholt sich so und so ähnlich immer wieder – womöglich während wir Kleists Geschichte lesen.
Der Traum von Olympia: Gelesen. Geheult.
Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar.
ISBN: 978 3 551 73639 0
152 Seiten
17, 90 Euro
Carlsen