Polen, Ende der 1980er Jahre. Revolution liegt in der Luft. Die Polen haben die Herrschaft des „großen Bruders“satt, dieser mächtigen UdSSR, die ihnen keine Freiheiten lässt und auf deren Konto es geht, dass es in den Läden nichts zu kaufen gibt und man sogar für Zwiebeln und Brot Stunden über Stunden Schlange stehen muss.
Die kleine Marzi ahnt, dass irgend etwas nicht so ist wie sonst: Die Erwachsenen reden nur noch in merkwürdigen Codewörtern, wie Solidarność, UdSSR, soziale Bewegung. „In meinem Land“, so Marzis Bilanz, „passiert Gewaltiges“.
Dieses Gewaltige wird Marzi dann hautnah miterleben: Der Vater, ein Fabrikarbeiter, schließt sich den Streiks an. Gemeinsam mit der Mutter geht sie ihn besuchen, um am Fabriktor ein paar Worte zu wechseln, ihm frische Kleider und etwas zu essen zuzustecken. Als sich nach tagelangen Streiks schließlich die ganze Stadt den Arbeitern anschließt und alles in einer riesigen Demonstration trotz der bedrohlich nah über den Köpfen kreisenden sowjetischen Hubschrauber unerschrocken durch die Straßen zieht, thront Marzi stolz auf den Schultern ihres Vaters und badet förmlich in der Euphorie ringsum.
Doch der politische Wandel, Polens friedlicher Wechsel von der kommunistischen zur demokratischen Ordnung im Jahr 1989, bildet eigentlich nur den Hintergrund dieser Graphic Novel. Die Autorin erzählt in insgesamt 19 Episoden nicht nur von Streik und Umbruch, sondern vor allem von ihrer Kindheit:
Die Sommerferien, die immer damit beginnen, dass endlos Erdbeeren bei den Verwandten auf dem Land geerntet werden müssen, wo die Tante ein Huhn schlachtet und im Garten im blechernen Zuber gebadet wird. Die barschen Krankenschwestern in der Schule, die alle Schüler fürchten wie die Pest. Das Festmahl zu Weihnachten, das erst begonnen wird, wenn der erste Stern am Himmel steht. Die Käfer-Jagd im Sommer, der verrückte Kinderschreck Wiesiek, die Zigeuner, vor denen Marzis Mutter eindringlich warnt, obwohl sie doch eigentlich nett aussehen – ein Panorama von Kindheitserinnerungen breitet sich vor dem Leser aus, in nostalgischen Sepia-Tönen, aus dem einzig alles Rote hervorleuchtet, wie angesteckt von der wilden, phantasievollen Marzi mit ihrem Rotschopf.
Bei all dieser Kindheits-Nostalgie leistet „Marzi“ sicherlich, wie auch schon der erste Band es tut, einen wichtigen Beitrag dazu, noch den verwöhntesten Westler begreifen zu lassen, was Leben unter der sowjetischen Knute wirklich hieß.
Doch haben die „Marzi“-Geschichten auch ein entscheidendes Problem: Die Bilder werden vom Text regelrecht überwältigt. Keine Zeichnung ohne mindestens drei Zeilen eines stellenweise ziemlich gewollt poetischen Textes – als wäre es nicht das Bild ohne viel Worte, das einer Graphic Novel ihre besondere Kraft verleihen kann.
Dass Text und Bilder, so sie nicht von ein und demselben Künstler stammen, schwer zu einem einheitlichen Kunstwerk zu vereinbaren sind: Das ist der Eindruck, den der vom vielen kleingedruckten Text ein wenig erschöpfte Leser schließlich mitnimmt.
Schade – aber Autorin Sowa und Zeichner Savoia haben ja gerade erst angefangen…
Marzi: Das Überleben im Ostblock, teils wahr und witzig, teils ein wenig bemüht in Text und Bilder gefasst.
Sylvain Savoia/Marzena Sowa: Marzi Band 2: 1989.
ISBN: 978 3 86201 468 2
228 Seiten (Hardcover).
24,95 Euro.
Panini Comics.