Jahrestage, reihenweise

Weihnachts-Flocken (1 von 3)

Bücher verschenken. Wieso eigentlich nicht. Passen unter jeden Baum, riesige Auswahl. Nicht allzu teuer. Fragen wir den Kleinbuchhändler unseres Vertrauens doch einmal nach …

… Leo Tolstoi: „Krieg und Frieden“.

„Monumental“ sei Tolstois Roman, glaubt man den Klappentexten der Verlage, die ihn (neu) auflegen. Na super.

Als wollten sie einem noch mehr Angst machen.

Da senkt es die Hemmschwelle schon eher, erstmal auf Verfilmungen auszuweichen (was Tolstoi, sehr neugierig auf das zu seiner Zeit brandneue Medium Film, vielleicht auch gar nicht so schlecht gefallen hätte). Ganz neu, und sehr gut, ist die Interpretation, die gerade von der BBC One ausgestrahlt wird – mit glaubhaft jungen, durchweg fantastischen Darstellern und in gewohnter BBC-Qualität.

Und wie es gute Verfilmungen so an sich haben, weckt sie die Neugier auf das Original, in seiner schlichten Buchform.

Man liest also tapfer los. Und die ganze Zeit rechnet man mit dem Schlimmsten: Bestimmt versteh ich eh nur alles falsch. Bestimmt kapier ich gleich überhaupt nichts mehr. Bestimmt wird es bald total langweilig.

Aber der gefürchtete Langeweile-Lese-GAU – er stellt sich einfach nicht ein. Und je länger er das nicht tut, desto mehr fängt man an, sich zu entspannen, alles andere zu vergessen, den russischen Truppen durch glühende Hitze und Staub Richtung Smolensk hinterherzurennen, wo schon längst die Franzosen stehen, alles plündern und in Brand stecken, derweil die oberen Zehntausend im glänzenden Petersburg noch feiern, trinken und tanzen in ihren Salons, als gebe es kein Morgen.

Man bebt: Der stattliche (oder einfach: sexy) Andrej und die wilde, lebensfrohe Natascha werden sich doch wohl kriegen? Was wird der sanfte, gebildete Pierre tun, wenn er entdeckt, dass ihn seine Frau mit einem der schlimmsten Spieler und Schläger Petersburgs betrügt? Wie schafft es Nikolai Rostow, seinem Vater zu gestehen, dass er in einer Nacht 43 000 Rubel verspielt hat? Gelingt es dem forschen Dennissow, seine elenden, schlecht ausgerüsteten, schon halb krepierten Soldaten vor dem Hungertod zu retten?

Und es ist ja nicht nur die Handlung allein. Immerhin haben wir es hier mit einem der wirklich großen realistischen Gesellschaftsromane zu tun, mit einem Autor, der uns in jeder Szene ein Psychogramm aller Beteiligten gleich mitliefert und den russischen Adel, diese privilegierte, ahnungslose, verwöhnte Bande, entlarvt mit ihrem halbgebildeten Gerede, ihrem Mangel an Fantasie und echter Emotion, ihrer Realitätsverleugnung.

Erst die (Kriegs)Realität schlechthin, in Gestalt von Napoleons Truppen, wird etwas in Bewegung setzen in dieser hermetischen Welt und den Figuren eine Möglichkeit geben, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen …

Krieg und Frieden: Möglichst nicht direkt vor offziellen Anlässen (Meeting/Konferenz/75. Geburtstag) lesen – das Gefühl, plötzlich Superkräfte zu besitzen und alle Anwesenden mühelos durchschauen zu können, wird doch etwas unheimlich auf Dauer.

Sehr zu empfehlen ist die neue Übersetzung von Barbara Conrad.

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden.
Neu übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad.
ISBN 978-3-423-59085-3
29,90 € EUR
2288 (!) Seiten.
dtv Literatur

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