Der Wilde Westen ist voller wilder Geschichten, und eine davon, die so oder zumindest so ähnlich offenbar tatsächlich stattgefunden hat, erzählt An Rutgers in ihrem klugen Jugendbuch „Die Kinderkarawane“.
Pioniere nannte man ja damals die Männer und Frauen, die sich aufmachten, um den riesigen nordamerikanischen Kontinent zu ihrer Heimat zu machen – dort zu siedeln, Land zu bebauen, Dörfer und Städte zu gründen. Weil sie allein im wilden Land gar keine Chance gehabt hätten, schlossen sie sich zu Trecks zusammen, entschlossene Kolonnen häufig viel zu schwer gebauter Planwagen, voller Kinder, Möbel, Erbstücke.
Der Siedlertreck in der „Kinderkarawane“ will eigentlich nach Oregon, ins wahrhaft gelobte Land, zur Missionsstation des Missionars Whitman. Aber Oregon ist weit, der Weg erweist sich als sehr viel härter als angenommen. Sollen sie nicht doch lieber nach Kalifornien, die leichtere Route einschlagen?
Die Kinder der deutschstämmigen Familie Sager, Waisen nach dem Tod von Vater und Mutter, die den strapaziösen Weg nach Westen nicht überlebt haben, träumen den Traum der Eltern vom gelobten Oregon. Sie sind entsetzt, als der Treck beschließt, doch lieber den sicheren Weg, nach Kalifornien, zu nehmen.
Und sie beschließen: Dann gehen wir eben alleine weiter.
Dahin, wo wir wirklich hinwollen. Dahin, wo unsere Eltern hinwollten.
Also schleichen sie sich eines Nachts davon, John, Luise, Francis, Käthe, Mathilde, Lizzi und Indepentia. Und Oskar, der Wolfshund, Walter, der Ochse, und Anna, die Milchkuh. Denn Milch werden sie brauchen, schließlich ist das kleinste Sager-Kind, Indepentia, noch ein Baby …
Heute mag ich mir kleine Kinder und vor allem Säuglinge mitten in der Wildnis im Traum nicht vorstellen. Das Abenteuer der Sager-Kinder ist nichts, was Erwachsene je tun würden – aber genau die Tatsache, dass die Hauptfiguren eben nicht erwachsen sind, dass sie etwas tun, das gegen jede erwachsene Vernunft ist, und auf dem schrecklichen Weg ihre ganz eigenen, kindlichen Stärken entdecken, ist das Besondere an der „Kinderkarawane“. Ich habe das geliebt als Kind: Dass Kinder so mutig und stark geschildert werden, dass Erwachsene kaum vorkommen, und wenn, dann bemerkenswert schwach: Die wankelmütigen Siedler des Trecks, wie sie nur allzu bald den ursprünglichen Traum vom grünen Oregon kippen angesichts der Gefahren des Weges, die Sager-Eltern, die so bald an der Seuche sterben, der zwar herzensgute, aber durchs wilde Leben verwahrloste Verwalter des Forts Boisè, einem einsamen Außenposten der US-amerikanischen Zivilisation, wo die Kinder ein paar Wochen Erholung finden, bevor sie unermüdlich weiterziehen.
Rutgers geht es nicht nur um Abenteuer, um wilde Bären, um Treibsand, um Waldbrände, Hagelstürme, gebrochene Beine und schwindelerregend hohe Gebirge, die Gipfel um Gipfel erklommen sein wollen. Sie nimmt die Kinder selbst in den Blick und was der harte Weg mit ihnen allen macht – vor allem mit dem Ältesten, John, fast vierzehn, geschickt, mutig, so bedächtig und überlegt wie der Vater, aber eben auch, wie er selbst bald einsehen muss, mit dem Wahnsinn der selbst gestellten Aufgabe grenzenlos überfordert. Wie John sich selbst zur Härte zwingt, seine Geschwister, um sie zu retten, unerbittlich antreibt: Dieses erzwungene, viel zu frühe Erwachsen-Sein schildert Rutgers so eindringlich wie herzzerreißend. Erwachsen sein, erwachsen werden: Bei Rutgers ist das auch vor allem Härte, Überforderung, Selbstverleugnung. Kein Ideal, nach dem zu streben sich lohnt. So konservativ Rutgers Erzählhaltung in dem in den 1970er-Jahren erschienenen Buch manchmal auch erscheint – die Indianer sind natürlich alle irgendwie suspekt oder sogar böswillig, keine Rede davon, wer hier wem das Land stiehlt; und Jungs scheinen der Autorin mehr zu gelten als Mädchen – das entschlossene Eintreten für die Stärken und erstaunlichen Ressourcen von Kindern ist dann doch bemerkenswert modern und heute noch ein Geschenk für ihre jungen Leserinnen und Leser.
An van der Loeff-Basenau Rutgers: Die Kinderkarawane.
Aus dem Niederländischen von Irma Silzer.
ISBN 978-3-423-07181-9
192 Seiten
7, 95 Euro
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