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Shaun Tan: Ein neues Land

Die Geschichte ist einfach: In einem armen Land lebt eine kleine Familie, Vater, Mutter, Kind. Der Vater hat sich entschieden, in die Fremde zu ziehen, um dort Geld zu verdienen. Wir sehen, wie er am letzten Morgen zu Hause ein Familienfoto von der Wand nimmt, es sorgsam in Papier einschlägt, es zuoberst in den abgeschabten Koffer legt.

Dann der Abschied von Frau und Tochter, die lange Fahrt übers Meer in einem riesigen, Titanic-ähnlichen Auswandererschiff.
Im neuen Land gilt es langwierige Einreise-Formalitäten zu überstehen, medizinische Untersuchungen, Formulare, Stempel. Einmal aufgenommen, steht die mühsame Suche nach einer Bleibe an, und nach Arbeit. Zum Glück gibt es noch andere Emigranten, die den Neuankömmling willkommen heißen, ihm weiterhelfen, nach seiner Geschichte fragen und ihre eigenen erzählen. Nach einem Jahr Arbeit kann er endlich Frau und Kind zu sich holen. Das letzte Bild zeigt seine fröhliche kleine Tochter, ganz offensichtlich integriert in der neuen Heimat, wie sie eifrig einer jungen Fremden, die verloren neben ihrem Koffer steht, den Weg weist. Eine Migrationsgeschichte, an deren Ende die gelungene Integration steht. Also alles gut?

Ja und nein.

In Berlin im Jüdischen Museum gibt es den „Garten des Exils“, der den Besucherinnen verdeutlichen soll, wie es sich anfühlt, in der Fremde zu sein. Schmale gepflasterte Wege führen zwischen hohen Betonpfeilern hindurch, die ein wenig schief stehen und die Sicht auf den Weg nicht ganz, aber doch so versperren, dass es irritiert. Schon nach wenigen Minuten kommt einem der Orientierungssinn abhanden: Ist es zum Ausgang wirklich noch so weit? Bin ich an diesem Pfeiler nicht schon zweimal vorbeigekommen? Dazu führen die Wege zwar geradeaus, aber immer auch ein wenig bergab, und das Pflaster ist gerade so uneben, dass man aufpassen muss, wohin man die Füße setzt. Die Fremde: Orientierungslosigkeit, schwankender Boden.

„Ein neues Land“ vermittelt einen ganz ähnlichen Eindruck konstanter Irritation. Die feinen, wie mit sehr weichem Bleistift gestrichelten Zeichnungen mit ihrem diffusen Grau-Weiß greifen Motive auf, die einem vage bekannt vorkommen: Die Auswanderer auf dem Deck eines Schiffes zwischen ihren Koffern und hastig geschnürten Bündeln – dieses Bild gibt es doch wirklich? Ein Zeitungsjunge, der sich im Großstadt-Lärm zu behaupten versucht – ist das nicht eine berühmte Straßenszene aus dem New York des frühen 20. Jahrhunderts? Hat man nun Zeichungen von Shaun Tan vor Augen oder lediglich von ihm nachgezeichnete Fotografien? Auch die Schrift im fremden Land ist zwar an die lateinische angelehnt. Aber zusätzliche Symbole, Schnörkel und Serifen verwandeln sie in eine Art unlesbare Hyper-Schrift, die immer so wirkt, als müsse man nur kurz blinzeln, um wieder „normale“ Buchstaben vor Augen zu haben. Und dazu diese unwirklichen, fantastischen Details: Im neuen Land gibt es kreisrunde, leuchtende Blumen wie aus dem Bilderbuch; die Bewohner halten sich katzen- oder drachenähnliche Haustiere mit übergroßen Augen, Schuppen, Klauen oder Kiemen; die Gebäude der fremden Stadt wirken wie aus der Science Fiction, schwindelerregend hoch; und die Infrastruktur ist fast ins Absurde technisiert durch merkwürdige Hebel, Zapfen, Wählscheiben. Kulturschock pur.

Es gibt keinen Text in „Ein neues Land“, und es braucht auch keinen. Einmal passt der Verzicht auf Worte zu einer Geschichte, in der es auch um den Sprachverlust in der Fremde geht: Auswanderer (noch) ohne Sprachkenntnisse müssen sich allein darauf verlassen, was sie sehen. Und wie im Ballett die schwebenden Tänzer Handlung und Emotion mühelos ganz ohne Worte vermitteln können, teilt sich auch bei Shaun Tan das Exilantenschicksal umso eindrücklicher allein durch seine Zeichnungen mit, die auch immer ein wenig zu schweben scheinen, entrückt wirken, wie hinter Milchglas. Die neue Heimat: Nie wird sie sich für den Ausgewanderten wirklich echt, greifbar, wie das Hier und Jetzt anfühlen. Die märchenhaften Sci-Fi-Elemente bleiben denn auch bis zum Schluss, als sich die Familie gut eingelebt hat, bestehen.

Halt in der Orientierungslosigkeit scheint indes allein die Begegnung mit anderen Menschen zu geben. Mag alles andere vor lauter Kulturschock vor den Augen verschwimmen: Shaun Tans Figuren tun das nicht. So lebensecht sind sie gezeichnet, dass sie sich der Leserin sofort unvergesslich einprägen, jedes Gesicht eine kleine Charakterstudie: Der abgekämpfte alte Fabrikarbeiter, seine freundlichen Boccia-Kameraden, die Familie, bei der unser verlorener Familienvater einen schönen Abend mit gutem Essen und Musik verbringt. Diese Gesichter und die vielen nach realen Vorbildern gezeichneten Passbilder auf den Umschlagseiten: Es scheint fast so, als würden sie einen stummen Appell ans Lesepublikum richten. Seht uns genau an. Nehmt jedes Schicksal ernst, fragt nach jeder Geschichte, auch wenn Tag für Tag Millionen Menschen zu Migranten werden und in der Fremde auf ein neues Leben hoffen.

Shaun Tan: Ein neues Land.
128 Seiten
ISBN: 978-3-551-71378-0
Carlsen Verlag.
www.shauntan.net

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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4 Gedanken zu „Shaun Tan: Ein neues Land“

    1. Freut mich sehr, dass dir meine Besprechung gefallen hat! Für mich war „Ein neues Land“ eine Art Start in Richtung „Graphic Novel“ – diese Idee, eine Geschichte ganz ohne Worte zu erzählen, hat mich sehr fasziniert.
      Viele Grüße!
      Die Flocke

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