Das Ufer ist alles. Es folgt so sanft dem Wasserlauf, so freundlich, die lächelnde Kurve. Ich berühre mit einer Hand den aufrecht wachsenden Schilf, rechts von mir. Ich folge dem Ufer, ich sehe die Oberfläche des Wassers mir folgen, neugierig. Ich fühle mich schuldig, denn ich habe diesem Wasserlauf nichts zu erzählen, und das Wasser will doch immer etwas Neues hören!
Was willst du, frage ich die Wasseroberfläche, was kann ich dir sagen? Du hast so viel gesehen, während ich hier geblieben bin und nichts anderes tun kann, als die Schilfhalme zu berühren. Dem Wasser folgen. Es ist so freundlich, es ist so neugierig, es hat so viel gesehen. Was willst du von mir, flüstere ich, und die Frage verfängt sich im Schilf, das so gerade neben mir wächst, am Ufer, das sich langsam krümmt, wie im Schmerz. Das strömende Wasser, die sanfte Ruhe der Oberfläche, die Frage, die es mir stellt.
Als Kinder haben wir Boote gebaut, die nie geschwommen sind, immer sind sie gesunken, und unsere Eltern haben die Augen verdreht, als wir nach Hause gekommen sind mit nassen Schuhen, Socken, Hosen und Shirts. Wenn mir das Wasser jetzt in die Schuhe liefe, was würde ich tun? Der Weg nach Hause ist weit ohne Schuhe. Es wäre ein Weg mit nassen Füßen. All die Boote, die gesunken sind, Kinderboote, aus Baumrinde, aus Schuhkartons, aus alten Dosen und leergelutschten Sunkist-Packungen. Unten im Wasser liegen sie und hoffen auf nichts mehr.
Schlagwort: Kindheit
Ella Risbrigder: Die Geschichte beginnt mit einem Huhn
Kochbücher sind total meins irgendwie. Ich liebe sie alle. Logisch, dass ich mich auch auf dieses Werk der britischen Autorin Ella Risbridger gleich stürzte, laut eines begeisterten Rezensenten „das erste Kochbuch, das verfilmt werden sollte.“
Die Idee überzeugt, denn in der Tat gibt es hier nicht nur massenweise Rezepte, sondern noch eine Handlung dazu: Die Autorin schildert ihren Weg aus Depression und Selbstmordversuchen hin zum Kochen und zum Schreiben übers Kochen, mit der Zubereitung des titelgebenden (Brat-)huhns als lebensbejahender Wende.
Sagen wir so: Ich glaube Risbridger das alles. Ich glaube auch ihrer Maxime, dass das richtige Essen zum richtigen Moment unendlich tröstend sein kann. Ich mag die vielen beruhigenden Kommentare in jedem Rezept und wie wichtig es Risbridger ist, uns allen die Angst vor dem misslungenen Gericht, vor pingeliger Zubereitung, vor dem Anbrennen und Verkochen und vor schlecht gewordenen Zutaten zu nehmen („Mach einfach weiter“). Jede Zutat und jedes fertige Gericht ist so liebevoll und plastisch beschrieben, dass man fast auf die Seiten zu sabbern beginnt, so läuft einem das Wasser im Mund zusammen, und die Anekdoten vor jedem Rezept sind eine gekonnt bittersüße Mischung aus lebensklug-ernst – der nie endende Kampf gegen die Depression – und lebensfroh-ermutigend – Picknicks in hügeligen Londoner Stadtparks, wunderbare Abende in winzigen, aber gemütlichen Wohnungen mit warmherzigen Freunden, und dazu Pfannen voller Spaghetti Carbonara oder Ingwerbier-Hähnchenschenkel oder Funkenfeuer-Roter-Beete-Suppe (am Guy-Fawkes-Day zu essen).
Aber auch, weil mein Magen empfindlich ist und mindestens die Hälfte der eher auf der fettig-großzügigen Seite angesiedelten Rezepte (Fischstäbchen! Roastbeef! Latkes!) das Potenzial hätte, mir ein ebenso großzügiges Loch in die betroffenen Schleimhäute zu brennen, begleitet mich bei Risbridgers Texten hartnäckig der Impuls, dazwischenzuschreien und die Idylle stören zu wollen. „Wer eine ausgewachsene Depression hat, brät sich kein Brathuhn mehr!“ könnte einer dieser, zugegeben nicht allzu reflektierten, Zwischenrufe lauten. Oder, noch viel unreflektierter: „Ich und viele andere Leserinnen auch würden sich den halben Arm abhacken für dein freies Londoner Leben voller besonderer Menschen und tiefer Gedanken, und du baust eine Depression – geht’s noch?“ Oder: „Wieso ist ein Buch für Erwachsene in Primärfarben illustriert und enthält in der Hauptsache Rezepte wie fürs Kindergartenpicknick? Wie alt sind wir denn eigentlich?“ Und am liebsten würde ich in etwa Folgendes dazwischenrufen: „Wollen wir erwachsene, starke Frauen sein oder Mädels in der Puppenküche, die bei ihren Lebenspartnern bleiben, weil sie sich dort ‚in Sicherheit‘ fühlen (ein weiteres autobiografisches Detail, das Risbridger offenherzig an uns weitergibt)?“
Aber ich will mal nicht zu ungerecht sein. Die Rezepte sind gut und originell, vom Profi und doch so, dass man sie hinkriegt und keinen großen Zinnober veranstalten muss. Die Rote-Beete-Suppe ist prima, das perfekte Schinkensandwich war wirklich göttlich und sehr tröstlich an einem fiesen Sonntagabend. Kochbuch bleibt Kochbuch, und ich liebe sie alle.
Und vom Dazwischenschreien werden die Magenschmerzen sowieso nur schlimmer.
Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben
Flucht steht im Zentrum dieses Romans, gleich zweimal. Einmal in der Gegenwart der Romanhandlung: Die Familie von Albin Prek, elf Jahre alt, darf nicht in Norwegen bleiben, wo ihnen während des Bosnienkriegs Asyl gewährt wurde. Als die Polizei kommt, um die Familie zu holen, läuft Albin weg – mit dem vagen Plan, sich irgendwie nach Oslo durchzuschlagen und dort unterzutauchen. Weiterlesen „Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben“
Adina Rishe Gewirtz: Zebrawald
Annie und ihr Bruder Rew haben es nicht leicht: Eine Großmutter mit Messie-Syndrom, die Mutter weg, der Vater tot, und immer wieder muss man sich gut klingende Lügen für die Sozialarbeiterin ausdenken: Wir kommen zurecht! Granny räumt das Haus auf und kocht für uns! Ja, wir gehen in die Schule.
Aber die beiden tun sich nicht leid. Sie lesen gemeinsam „Die Schatzinsel“ und stören sich nicht daran, dass in ihrer zerlesenen Ausgabe die ersten Kapitel fehlen. Und besonders in den Sommerferien können sie viele Stunden im Wald verbringen, der direkt hinter dem Haus beginnt und den sie „Zebrawald“ getauft haben: Von weitem ähneln dort die Birken und Eichen mit ihren weißen und dunklen Stämmen einem schwarz-weiß gestreiften Zebrafell.
Dann gibt es im benachbarten Staatsgefängnis eine Ausbruchswelle. Und plötzlich haben Gran, Rew und Annie einen entflohenen Sträfling bei sich im Haus …