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Tara Westover: Educated

Zwei rote Tabletten liegen vor Tara auf dem Tisch. Ibuprofen. Seit Tagen hat sie Schmerzen im Ohr, eine Entzündung wahrscheinlich. „Jetzt nimm schon,“ sagt der Freund. Aber Tara zögert. Medikamente sind Teufelswerk. Das Gesundheitssystem kontrollieren die Illuminaten. Wer Tabletten nimmt, kann keine gesunden Kinder zur Welt bringen …

Tara Westover, die mit „Educated“ ihr autobiographisches Debüt veröffentlicht, ist als Mormonin im US-Bundesstaat Idaho aufgewachsen. In ihrer Familie wird nur akzeptiert, wer sich den Glaubenslehren bedingungslos unterwirft, auch wenn dies ein Leben jenseits aller Normalität bedeutet.

Die treibende Kraft hinter diesem Fanatismus ist Taras Vater. Erst als Studentin an der Brigham-Young-Universität, einer mormonischen Institution, wo ein eher gemäßigter Glaube gelebt wird, wird Tara verstehen, dass dessen Verfolgungswahn („Das Militär wird uns unsere Kinder nehmen und sie in staatliche Schulen zwingen! Wir müssen uns bewaffnen!“), seine unberechenbaren Launen, die stundenlangen fanatischen Predigten auf eine bipolare Störung zurückzuführen sind, die sich behandeln ließe – würde die Familie nur an Ärzte glauben.

Auch an Bildung glaubt bei Tara zu Hause niemand. Ein Schulbesuch ist undenkbar: Die Schule, predigt der Vater, habe einzig zum Ziel, vom rechten Weg ab- und zu den Lehren des Teufels hinzuführen. Lesen und Schreiben bringen sich die Westover-Kinder also selbst bei, mehr schlecht als recht, halbherzig von der Mutter unterstützt. Mehr ist für ihr Leben auf der abgelegenen Farm im ländlichen Idaho auch nicht notwendig: In der festen Überzeugung, der Weltuntergang stehe unmittelbar bevor, leistet der Vater unermüdlich Knochenarbeit, um für den Tag X genug Waffen, Vorräte und Ausrüstung für sich und die Seinen beschaffen zu können. Seinen Kindern, die ja kein Schulbesuch hindert, teilt er selbstverständlich ebenfalls jeden Tag bestimmte Aufgaben zu – ohne Rücksicht darauf, ob diese von ihnen überhaupt geleistet werden können.

So muss Tara bereits im Alter von gerade einmal zehn Jahren dem Vater bei seiner Hauptarbeit, dem Ausschlachten alter Autos und ausgedienter landwirtschaftlicher Gerätschaften, zur Hand gehen, Jahr für Jahr auf dem Schrottplatz hinter der elterlichen Farm schwere, häufig gefährlich scharfkantige Metallteile hin- und herschleppen, ohne Handschuhe und ohne Helm: „Die behindern dich nur!“ Als sich ihr um wenige Jahre älterer Bruder, der mit Benzinresten in den Tanks der Autowracks hantieren muss, schwere Verbrennungen zuzieht und vor Schmerzen schreiend Richtung Haus kriecht, behandelt ihn die Mutter stoisch auf dem Küchentisch mit ihren Kräuter-Tinkturen.

Sozusagen der Kulminationspunkt dieser allgegenwärtigen Härte ist Shawn, Taras älterer Bruder. Als böser Geist ihrer Teenager-Jahre wird er sie wieder und wieder übel misshandeln, zwar nicht sexuell, aber doch brutal und demütigend genug.

Westover, die Cambridge- und Harvard-Abschlüsse vorweisen kann sowie einen Doktortitel, schildert ihren Weg hinaus aus dieser Welt klug und so eindringlich, dass es hin und wieder Lesepausen braucht, um Abstand zu gewinnen von der beschriebenen Brutalität.

Trotzdem hätte man der Autorin stellenweise mehr Mut zur literarischen Gestaltung gewünscht: Wieso nicht die Kindheitserinnerungen noch stärker auf die personale Sicht des naiven Kindes beschränken? Die reflektierte Stimme des erzählenden Ich erhebt sich doch sehr früh, womit die Erzählerin zwar viele kluge Gedanken in den Text einfließen lassen kann, sich aber zugleich die Möglichkeit nimmt, das langsame Erwachen ihres selbstbestimmten Ich auch auf sprachlicher Ebene geschehen zu lassen.

Wenn Westover diesen Schritt nicht geht, dann vielleicht deshalb, weil es der Text als Ganzes ist, der hier zählt. Denn dass dieser Text, in Romanform strukturiert, geordnet und veröffentlicht, überhaupt existiert, ist ja schon Sieg und Wunder angesichts ihrer Erfahrungen, ist Beweismittel genug für die zentrale These, die „Educated“ aufstellt: Bildung ist kein Luxus, sondern lebensrettende Kraft. Wo man, wie auf der Westover-Farm, wenig Wert auf sie legt, wo kaum reflektiert wird, wo es so gar kein Wissen um die übrige Welt, um den eigenen Kontext, die eigene Geschichte gibt, wo lediglich eine Handvoll dünner Glaubenssätze all dies ersetzt, da ist nicht das einfach-genügsame Idyll das Resultat, sondern Überlebenskampf im Steinzeit-Modus. Taras Familie funktioniert nach dem Recht des Stärkeren. Gewalt bestimmt alle Beziehungen, die der Mutter zum Vater, die der Geschwister, dem „Rudel Wölfe“, untereinander, ja sogar die zum eigenen Körper, den man in der tagtäglichen Maloche zum Werkzeug degradiert, keine Pausen und keine Schmerzmittel gönnt und den mit Seife zu waschen als Schwäche verhöhnt wird.

Will man so nicht enden, so Westovers Botschaft, sind Bildung, Wissen, eigenes Denken unverzichtbar, und ihr autobiographischer Roman selbst ist es, den sie als Beweis in die Waagschale werfen kann: Hat doch ihre mühsam erkämpfte Hochschulausbildung sie überhaupt erst dazu befähigt, ihn zu schreiben und mit dieser inhaltlichen wie sprachlichen Ordnungs- und Reflexionsarbeit die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen. Das Versprechen, dass der Titel gibt, wird eingelöst: Westover als Autorin ihrer eigenen Geschichte kann sich nach vielen Kämpfen und Rückschlägen wirklich als frei, gebildet – als tatsächlich „educated“ – bezeichnen.

Tara Westover: Educated.
ISBN: 9780099511021
400 Seiten.
£8.99
Windmill Books

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