Übersicht, sachlich

Ella Risbrigder: Die Geschichte beginnt mit einem Huhn

Kochbücher sind total meins irgendwie. Ich liebe sie alle. Logisch, dass ich mich auch auf dieses Werk der britischen Autorin Ella Risbridger gleich stürzte, laut eines begeisterten Rezensenten „das erste Kochbuch, das verfilmt werden sollte.“

Die Idee überzeugt, denn in der Tat gibt es hier nicht nur massenweise Rezepte, sondern noch eine Handlung dazu: Die Autorin schildert ihren Weg aus Depression und Selbstmordversuchen hin zum Kochen und zum Schreiben übers Kochen, mit der Zubereitung des titelgebenden (Brat-)huhns als lebensbejahender Wende.

Sagen wir so: Ich glaube Risbridger das alles. Ich glaube auch ihrer Maxime, dass das richtige Essen zum richtigen Moment unendlich tröstend sein kann. Ich mag die vielen beruhigenden Kommentare in jedem Rezept und wie wichtig es Risbridger ist, uns allen die Angst vor dem misslungenen Gericht, vor pingeliger Zubereitung, vor dem Anbrennen und Verkochen und vor schlecht gewordenen Zutaten zu nehmen („Mach einfach weiter“). Jede Zutat und jedes fertige Gericht ist so liebevoll und plastisch beschrieben, dass man fast auf die Seiten zu sabbern beginnt, so läuft einem das Wasser im Mund zusammen, und die Anekdoten vor jedem Rezept sind eine gekonnt bittersüße Mischung aus lebensklug-ernst – der nie endende Kampf gegen die Depression – und lebensfroh-ermutigend – Picknicks in hügeligen Londoner Stadtparks, wunderbare Abende in winzigen, aber gemütlichen Wohnungen mit warmherzigen Freunden, und dazu Pfannen voller Spaghetti Carbonara oder Ingwerbier-Hähnchenschenkel oder Funkenfeuer-Roter-Beete-Suppe (am Guy-Fawkes-Day zu essen).

Aber auch, weil mein Magen empfindlich ist und mindestens die Hälfte der eher auf der fettig-großzügigen Seite angesiedelten Rezepte (Fischstäbchen! Roastbeef! Latkes!) das Potenzial hätte, mir ein ebenso großzügiges Loch in die betroffenen Schleimhäute zu brennen, begleitet mich bei Risbridgers Texten hartnäckig der Impuls, dazwischenzuschreien und die Idylle stören zu wollen. „Wer eine ausgewachsene Depression hat, brät sich kein Brathuhn mehr!“ könnte einer dieser, zugegeben nicht allzu reflektierten, Zwischenrufe lauten. Oder, noch viel unreflektierter: „Ich und viele andere Leserinnen auch würden sich den halben Arm abhacken für dein freies Londoner Leben voller besonderer Menschen und tiefer Gedanken, und du baust eine Depression – geht’s noch?“ Oder: „Wieso ist ein Buch für Erwachsene in Primärfarben illustriert und enthält in der Hauptsache Rezepte wie fürs Kindergartenpicknick? Wie alt sind wir denn eigentlich?“ Und am liebsten würde ich in etwa Folgendes dazwischenrufen: „Wollen wir erwachsene, starke Frauen sein oder Mädels in der Puppenküche, die bei ihren Lebenspartnern bleiben, weil sie sich dort ‚in Sicherheit‘ fühlen (ein weiteres autobiografisches Detail, das Risbridger offenherzig an uns weitergibt)?“

Aber ich will mal nicht zu ungerecht sein. Die Rezepte sind gut und originell, vom Profi und doch so, dass man sie hinkriegt und keinen großen Zinnober veranstalten muss. Die Rote-Beete-Suppe ist prima, das perfekte Schinkensandwich war wirklich göttlich und sehr tröstlich an einem fiesen Sonntagabend. Kochbuch bleibt Kochbuch, und ich liebe sie alle.

Und vom Dazwischenschreien werden die Magenschmerzen sowieso nur schlimmer.


Freiheitsstatue
Übersicht, englisch, sachlich

Barack Obama: A promised land

Bovald Rump ist endlich weg, und es sieht ganz so aus, als würde sich die Obama-Ära nahtlos fortsetzen, mit seinem ehemaligen Vize an der Spitze. Da kommt „A promised land“, Obamas Rückblick auf politischen Werdegang und erste Jahre im Weißen Haus, gerade recht. Weiterlesen „Barack Obama: A promised land“

Übersicht, Lieblingsbücher, sachlich, Texte

Das frivole Museum

Von meiner Omi habe ich eine Handvoll Schmuck geerbt, zwei Fast-Biedermeier-Stühle und diese wild geblümten Overalls aus den Siebzigern. Außerdem ein schmales Bändchen mit dem vielsagenden Titel „Das frivole Museum“, fünfte Auflage 1961.

Möglich, dass das heute als ironisch-cooles Coffeetable Book durchginge. Damals fiel sowas in die artige Kategorie „Schmunzelbuch“, Zielgruppe waren die gebildeten oberen Zehntausend, und schmunzeln sollten sie darüber, dass berühmte Werke der bildenden Kunst, Gemälde oder Skulpturen, sich in Form ganz alltäglicher Sätze selbst zu Wort melden.

Also, zum Beispiel: Dürers Selbstportrait mit den auffallend langen Locken, berühmtes Statement eines selbstbewussten Künstlers, der Geist der Renaissance weht uns an. Und im Frivolen Museum steht dann drunter: „Also ich habe mit Heimkaltwelle nur gute Erfahrungen gemacht“.

Für mich atmet das die Fünziger Jahre wie nichts anderes, vor allem die obskure Heimkaltwelle, von der ich bis heute nicht weiß, was das bitte sein soll, ich stelle mir da immer eine Art mechanische Steampunk-Trockenhaube vor. Keine Fifties-Lampe oder diese mundgeblasenen Schalen oder was die Hipster sonst noch horten, kommt da ran. Und wie meine Omi war als Mensch, und wie mein alberner Großvater, der mich noch gekannt hat, aber ich ihn nicht, weil er relativ früh starb, und wie die heitere Ehe dieser beiden, und ihr High Life in den Fünfzigern, Reisen, Glamour, Parties, endlich ordentlich Geld verdienen, endlich Luxus und nobel gedeckte Tische statt hastig aus dem Rucksack fressen wie an der Front, das enthält dieses Bändchen auch, unschlagbar.

Interessanterweise zündet die Grundidee vom „Frivolen Museum“ am besten bei den wirklich berühmten, klassischen Sachen (Dürer, Michelangelo) und bei moderner Kunst (Mirò, Duchamp) irgendwie nicht so gut. Interessant auch, dass einige der frivolen Heiterkeiten natürlich auf Kosten der abgebildeten Frauen gehen. Ob die Art platter Sexismus damals wirklich niemanden gestört hat?

Wobei es mich eigentlich auch nicht wirklich stört, gebe ich zu. Zu viele Erinnerungen hängen an diesen Witzchen, zu hartnäckig folgen sie mir von Museum zu Museum. Steh ich vor der Nofretete, macht es bling! und ich denke sofort: „Mit diesem Hut steche ich sie alle aus!“ Die Laokoon-Gruppe will mich beeindrucken, aber meine innere Tagline ist schneller: „Nimm doch mal einer den Hörer ab!“

Von meiner Omi habe ich Schmuck geerbt und zwei Stühle und diese Siebziger-Overalls im unmöglichen Blumenmuster. Ich kann ihr nicht mehr sagen, dass für mich ein schmales Bändchen herzzereißender Albernheiten, aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Land, absolut am meisten zählt. Ich schätze aber mal, sie weiß es: Spätestens in der alten Pinakothek, irgendwann wird Corona ja vorbei sein und man kann wieder hin, wenn ich Dürers Selbstportrait sehe mit den langen Locken, die Renaissance, die Entdeckung des Ich, der Stolz des selbstbewussten Künstlers, wird ein fettes Blinklicht im Jenseits leuchten bis zu mir: „Also ich habe mit Heimkaltwelle nur gute Erfahrungen gemacht“.  

 

 

 

 

 

Übersicht, sachlich

Jan Gehl: Städte für Menschen

Stickoxid-Wolken, Motorenlärm, vier Spuren für Autos, ein Streifen Brösel-Asphalt für alle anderen – weltweit ist das in unseren Großstädten trostlose Realität.

Dass sich heute viele Metropolen zumindest um Veränderung bemühen und „autogerecht“ kein stadtplanerisches Zauberwort der Stunde mehr ist, haben wir auch Jan Gehl zu verdanken, einem dänischen Architekten. Weiterlesen „Jan Gehl: Städte für Menschen“

Übersicht, Debüts, erzählend, sachlich

Amy Liptrot: Nachtlichter

Wer „Nachtlichter“ liest, macht zwei Reisen zugleich: Eine psychologische, in die Seele eines alkoholkranken Menschen, dem nach zehn Jahren der Sucht endlich der Ausstieg gelingt, und eine geographische, in den äußersten Norden Großbritanniens, auf die Inselgruppe der Orkneys.

Weiterlesen „Amy Liptrot: Nachtlichter“

Übersicht, sachlich

Roberto Saviano: Gomorrha

https://www.dtv.de/_cover_media/450b/9783423345293.jpg?20160624220601Am besten stirbt man durch einen Schuss in den Kopf, erklärt der kleine Junge dem Journalisten. Dann ist nämlich alles vorbei, bumm, mit einem Schlag! Ins Herz, das ist nicht gut: „Da stirbst du doch erst nach zehn Minuten.“
Wo die Camorra das Sagen hat, in den armen Stadtteilen von Neapel zum Beispiel, gehört der gewaltsame Tod zum Alltag. Seit ich geboren bin, rechnet Saviano vor, also in 26 Jahren, haben 3600 Menschen in den Kriegen zwischen den Mafia-Clans das Leben verloren. Erschossen, erschlagen, verbrannt, erdrosselt. Mit dem Falschen Geschäfte gemacht. Mit dem Falschen geschlafen. Einen Querschläger abgekriegt. Weiterlesen „Roberto Saviano: Gomorrha“

Übersicht, sachlich

Ahmad Mansour: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen.

Zum Beispiel. Nach einem terroristischen Anschlag in Paris sucht eine junge Lehrerin, selbst noch tief erschüttert, das Gespräch mit ihrer Klasse. Wie fühlen sie sich, nachdem etwas so Schreckliches passiert ist?
Aber die mehrheitlich muslimischen Mädchen und Jungen haben mit dem Anschlag kein Problem. Sie jubeln geradezu. Endlich tut mal einer was! Und auch noch so viele Juden unter den Opfern – super. „Die haben den Propheten gerächt!“ Die Lehrerin hält es nicht aus. Sie flieht aus dem Klassenraum, ins Lehrerzimmer, ans Telefon und ruft die Polizei.
Ahmad Mansour kann über Szenen wie diese nur den Kopf schütteln. Weiterlesen „Ahmad Mansour: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen.“

Viech auf Baum
sachlich

Kathrin Passig/Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin

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Steuererklärung, Sperrmüll anmelden, zur Caritas mit der alten Ikea-Couch, das Auto zum TÜV tun, die Krankenkasse anrufen wegen des Rundschreibens „Anpassung der Entgeltgruppen im Verwaltungs-Zeitraum 16/012/01“ – solche Widerwärtigkeiten schieben wir alle so lange wie irgend möglich vor uns her. Und fühlen uns dann schuldig. Wenn das jeder täte!

Als erwachsener Mensch müsste man doch zu mehr Selbstdisziplin imstande sein.

Müsste man? Weiterlesen „Kathrin Passig/Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“

Graphic Novel, sachlich

Auf eine Cola mit Judas und Billy The Kid

Ein Gastbeitrag von schriftstueckwerk zum Literaturnobelpreis an Bob Dylan

Dass jede neue Entscheidung der Schwedischen Akademie in den Feuilletons zerpflückt wird, hat ja schon Tradition. Wenn das Echo auf die diesjährige Literaturnobelpreisverleihung an Bob Dylan für diese Maßstäbe auch schon fast überraschend einvernehmlich ist, befürchten doch manche aus diesem Anlass gleich nichts weniger als das Ende aller Literatur. Bevor man sich zu solchen apokalyptischen Visionen versteigt, sollte man vielleicht doch noch einmal all die verzwickten, rauschhaften, trügerisch simplen, verschlüsselten, entwaffnend direkten, ironischen, lakonischen Verse eines zweiten Blickes würdigen, die den mindestens ebenbürtigen Gegenpart zur Musik in Dylans Schaffen bilden.

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sachlich

Wibke Bruhns: Meines Vaters Land

https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/51Zp%2BtNQYIL._SX314_BO1,204,203,200_.jpgWibke Bruhns, geborene Klamroth, ist wütend. Zum Beispiel darüber, dass ihre Mutter einst fröhlich im Familientagebuch vermerkte: „Wir singen Hitler-Lieder!“ Dazu ein Foto von einem geselligen Abend im Familienkreis, die Kinder stehen ums Klavier und recken die Arme.

Das Oberhaupt dieser unbeschwerten Runde, Bruhns‘ Vater Hans Georg Klamroth, galt den Nazis als Mitwisser des gescheiterten Attentats vom 20. Juli und wurde im August 1944 hingerichtet. Weiterlesen „Wibke Bruhns: Meines Vaters Land“