Übersicht, erzählend, Graphic Novel, Junge Leser, Lieblingsbücher

Shaun Tan: Ein neues Land

Die Geschichte ist einfach: In einem armen Land lebt eine kleine Familie, Vater, Mutter, Kind. Der Vater hat sich entschieden, in die Fremde zu ziehen, um dort Geld zu verdienen. Wir sehen, wie er am letzten Morgen zu Hause ein Familienfoto von der Wand nimmt, es sorgsam in Papier einschlägt, es zuoberst in den abgeschabten Koffer legt.

Dann der Abschied von Frau und Tochter, die lange Fahrt übers Meer in einem riesigen, Titanic-ähnlichen Auswandererschiff.
Im neuen Land gilt es langwierige Einreise-Formalitäten zu überstehen, medizinische Untersuchungen, Formulare, Stempel. Einmal aufgenommen, steht die mühsame Suche nach einer Bleibe an, und nach Arbeit. Zum Glück gibt es noch andere Emigranten, die den Neuankömmling willkommen heißen, ihm weiterhelfen, nach seiner Geschichte fragen und ihre eigenen erzählen. Nach einem Jahr Arbeit kann er endlich Frau und Kind zu sich holen. Das letzte Bild zeigt seine fröhliche kleine Tochter, ganz offensichtlich integriert in der neuen Heimat, wie sie eifrig einer jungen Fremden, die verloren neben ihrem Koffer steht, den Weg weist. Eine Migrationsgeschichte, an deren Ende die gelungene Integration steht. Also alles gut?

Ja und nein.

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Leckere Auslage in Londons nobler neighborhood.
Übersicht, Debüts, englisch, erzählend, Graphic Novel, Junge Leser, reihenweise, Sunday's choice

Sunday’s choice

Sonntag: Die nächste 80-Stunden-Woche dräut. Gegen den bitteren Alltag verteilt Sunday’s choice ausgewählte Pralinen aus dem Bücherregal an hungrige Leserherzen.

Ian McEwan: Atonement. Nach Chrisopher Nolans Adrenalinstoß „Dunkirk“ musste ich hier wieder reinschaun. Dünkirchen, dieser merkwürdige Sieg-und-doch-nicht-Sieg des Zweiten Weltkriegs, gleich doppelt geschildert: Aus der Sicht eines englischen Soldaten, der die Flucht des britischen Expeditionsheers bis an die Küste mitmacht, und aus der einer jungen Krankenschwester, über deren Londoner Hospital die Dünkirchen-Katastrophe hereinbricht in Form von Hunderten schwerverletzter Soldaten.

Teju Cole: Every Day is for the Thief. Nach Adichies „Americanah“ eine weitere Stimme aus Nigeria: Coles Ich reist aus den USA, seiner Wahlheimat, zurück ins nigerianische Lagos. Seine Beobachtungen und Erfahrungen driften immer wieder vom Dokumentarischen ins Poetische, Literarisierende, was man mögen kann, aber nicht muss (liest sich zuweilen wie eine Paraphrase von „Ich bin ein großer Schriftsteller“). „Jeder Tag“ liefert fesselnde, häufig ziemlich üble Einblicke in den Moloch Lagos, der ebenso von Korruption und Gewalt in die Knie gezwungen wie von Kunst, Kultur und Zähigkeit am Leben erhalten wird.

Deborah Feldman: Exodus. Der zweite Roman nach dem autobiographischen „Unorthodox“, das mit der jüdisch-orthodoxen Satmarer Sekte abrechnete und der Autorin Morddrohungen einbrachte. Sehr viel weniger überzeugend, aber ich gebe dem Verlag die Schuld: Man sieht regelrecht vor sich, wie sie die junge Autorin dazu zwingen, möglichst bald nachzuliefern, solange die aus dem furchtlosen Debüt gewonnene Aufmerksamkeit noch anhält … Oder es liegt einfach an der Faustregel „zweiter Roman schwerster Roman“.

Lian Hearn: Heaven’s net is wide. Der Regen der letzten Wochen hat mich wieder auf die Spur dieses Fantasy-Titels gebracht, der eine fürs emotional eher im Hölzernen beheimateten Genre erstaunlich zarte Szene vorweisen kann: Der große Krieger und seine geheime Geliebte treffen sich in einem einsamen Tempel und lieben sich, während der Regen herabstürzt, ein silberner Vorhang, der das Paar für ein paar magische Stunden abschirmt von der Welt. „Heaven’s net“ ist das Prequel von Hearns Japan-Trilogie für junge Leser.

Und zum Schluss?

René Goscinny/Morris: Lucky Luke: Calamity Jane. Ja, beim Teutates, eigentlich bin ich im Asterix-Lager eher zu Hause als im Wilden Westen. Aber wo sich René Goscinny für den Mann, der schneller schießt als sein Schatten, ins Zeug gelegt hat, wie eben im Fall der Begegnung (fast eine Romanze, trotz Calamitys Knollennase) zwischen Lucky Luke und der ungehobelten Desperada Calamity Jane („Du hast mir das Leben gerettet, Luke … Falls noch ne Flasche heil ist, spendier ich ne Runde!“) kann schon wie im antiken Gallien nichts schiefgehen.

Graphic Novel, sachlich

Auf eine Cola mit Judas und Billy The Kid

Ein Gastbeitrag von schriftstueckwerk zum Literaturnobelpreis an Bob Dylan

Dass jede neue Entscheidung der Schwedischen Akademie in den Feuilletons zerpflückt wird, hat ja schon Tradition. Wenn das Echo auf die diesjährige Literaturnobelpreisverleihung an Bob Dylan für diese Maßstäbe auch schon fast überraschend einvernehmlich ist, befürchten doch manche aus diesem Anlass gleich nichts weniger als das Ende aller Literatur. Bevor man sich zu solchen apokalyptischen Visionen versteigt, sollte man vielleicht doch noch einmal all die verzwickten, rauschhaften, trügerisch simplen, verschlüsselten, entwaffnend direkten, ironischen, lakonischen Verse eines zweiten Blickes würdigen, die den mindestens ebenbürtigen Gegenpart zur Musik in Dylans Schaffen bilden.

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Graphic Novel

Sylvain Savoia/Marzena Sowa: Marzi.1989

Polen, Ende der 1980er Jahre. Revolution liegt in der Luft. Die Polen haben die Herrschaft des „großen Bruders“satt, dieser mächtigen UdSSR, die ihnen keine Freiheiten lässt und auf deren Konto es geht, dass es in den Läden nichts zu kaufen gibt und man sogar für Zwiebeln und Brot Stunden über Stunden Schlange stehen muss.

Die kleine Marzi ahnt, dass irgend etwas nicht so ist wie sonst: Die Erwachsenen reden nur noch in merkwürdigen Codewörtern, wie Solidarność, UdSSR, soziale Bewegung. „In meinem Land“, so Marzis Bilanz, „passiert Gewaltiges“. Weiterlesen „Sylvain Savoia/Marzena Sowa: Marzi.1989“

Graphic Novel

Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia

Reinhard Kleist ist keiner, der es sich leicht macht. Nicht mit der Graphic Novel „Der Boxer“.

Und auch nicht mit „Der Traum von Olympia“.

Die junge Läuferin Samia Yusuf Omar aus Somalia träumt von einer Karriere als Profi-Sportlerin. Bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 war sie schon dabei, jetzt will sie den nächsten großen Schritt wagen: London, 2012.
Aber professionell für Olympia trainieren, das ist so eine Sache, wenn man ausgerechnet aus Mogadischu kommt. Das Stadion eine Ruine, kein passendes Sportzeug, keine Stoppuhren, statt Sportler-Diät Bananen und Reis. Und in den Straßen patrouillieren Al-Shabaab-Milizen, die Samia auf dem Heimweg vom Stadion auflauern: Warst du das im Fernsehen bei der Olympiade? Schämst du dich nicht? Wir wissen, wo du wohnst.

Der Versuch, im Nachbarland Äthiopien zu trainieren, wo die Bedingungen besser sind, schlägt fehl. Und die Spiele in London rücken näher. Samia sieht nur noch einen Ausweg: Sie entscheidet sich für die riskante Flucht nach Europa … Weiterlesen „Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia“